Unsere Reaktion auf den taz Artikel vom 11.01.2021

Liebe taz Berlin Redaktion,

wir, die Anwohner*innen-Initiative Wrangelkiez United, möchten unseren Unmut über den am 11.01.21 veröffentlichten Artikel “Mehr Polizei, mehr Dealer” von Plutonia Plarre ausdrücken. Wir möchten einige grundsätzliche Dinge bemerken, die uns auch mit etwas zeitlichem Abstand noch ärgern.

Die Gruppe ‘Wrangelkiez United’ ist eine Anwohner*innen-Initiative, die sich im Frühjahr 2020 aufgrund einer massiven Zunahme von Polizeieinsätzen im und um den Görlitzer Park gegründet hat (die Gegenüberstellung von Wrangelkiez United und “alteingesessenen Kreuzbergern” im Artikel finden wir daher mehr als irreführend). Wir beobachten täglich die verbotene Praxis des Racial Profiling und Polizeigewalt, sind teilweise selbst davon betroffen. Wir setzen uns gegen ein reflexartiges Rufen nach mehr Polizei, für ein Umdenken und alternative Lösungsideen ein. Wir kennen die Probleme im Kiez und sehen sie verknüpft mit Themen wie Gentrifizierung, Obdachlosigkeit, der Asyl- und Drogenpolitik, der Zuspitzung sozialer Probleme durch Corona. Auch wir sind von Vielem in unserer Nachbarschaft genervt. Doch wir wissen, dass Polizeigewalt weder gegen Armut, noch gegen Arbeitsverbote für Asylsuchende oder gegen hohe Mieten und Verdrängung hilft. Wir wünschen uns eine solidarische Nachbarschaft, die im Dialog miteinander eine demokratische und kritische Auseinandersetzung führt.

Um Genaueres über die Polizeieinsätze und ihre Wirkung zu erfahren, haben wir in Kooperation mit dem Berliner Abgeordneten Niklas Schrader eine kleine Anfrage zum Thema „Ausweitung des kriminalitätsbelasteten Ortes ‚Görlitzer Park‘ auf den Wrangelkiez“ an den Berliner Senat gestellt. Es wurde explizit die taz angefragt, die Beantwortung der Anfrage noch vor ihrer Veröffentlichung einzusehen und darüber zu berichten. Dies geschah in der Hoffnung, eine gute Auswertung der Anfrage und einen sensiblen Umgang mit diesem Thema zu gewährleisten – gerade auch in Hinblick auf die aktuellen Vorkommnisse in der (Berliner) Polizei und dem in diesem Jahr verstärkt diskutierten Thema Rassismus.

Der Artikel von Plutonia Plarre ist eher das Gegenteil. Allein schon die Überschrift ist bemerkenswert: Während wir in der Antwort auf die Anfrage sehen können, dass die Einsatzstunden der Polizei sich seit 2019 mehr als verdreifacht haben, geht die Behauptung, es gebe mehr Dealer, weder aus der Anfrage hervor, noch wird sie im Artikel belegt. Es hat den Anschein, als ließe sich die Redaktion hier von subjektiven Beobachtungen und Vorannahmen leiten, statt die Anfrage journalistisch auszuwerten. Wir stellen nicht in Frage, dass hier gedealt wird. Wir erwarten aber von einer Zeitung, die sich selbst kritisch nennt, sich auf belastbare Analysen zu stützen statt auf subjektive Beobachtungen, wie sie die Boulevardpresse seit Jahren verbreitet.

Auch zeigt sich in der Beantwortung unserer Anfrage deutlich, dass die im Görlitzer Park verübten Straftaten noch immer größtenteils den Handel mit und den Konsum von Cannabis betreffen. Statt auf diese Tatsache einzugehen oder andere belegbare Zahlen zu nennen, bemüht die Autorin ein politisches und noch dazu veraltetes Zitat von Monika Herrmann als Beleg dafür, dass es kein „Kifferpark“ mehr sei. Auch dies bewerten wir als schlechte journalistische Praxis.

Mehrmals werden im Artikel unterkomplexe Plattitüden benutzt, die wir seit Jahren in der Presse präsentiert bekommen und die zur Polarisierung von Positionen beitragen. Wir beobachten, dass auf diese Weise eine Bedrohungssituation konstruiert wird, die wir so nicht wahrnehmen. Die dargestellte Bedrohungssituation und ein beeinträchtigtes Sicherheitsempfinden von Teilen der Bevölkerung werden von der Polizei aufgegriffen, um ihre Einsätze zu begründen, wie ebenfalls in der Beantwortung unserer Anfrage nachzulesen ist. Dass die Polizei ihre Maßnahmen nicht mehr nur auf tatsächliche Kriminalität, sondern auf ein diffuses Sicherheitsgefühl stützt, wird in der Fachwelt aufs Schärfste kritisiert. Dass Berichterstattung einen Einfluss auf dieses subjektive Sicherheitsgefühl hat, ist ebenfalls bekannt. In Ihrem Artikel hingegen fehlt nicht nur eine Kritik dieser Polizeipraxis, sondern ihre Grundannahmen werden reproduziert. Wenn eine Zeitung es aber nicht schafft, Begriffe zu hinterfragen, ist sie bei einer populistischen Argumentationslinie angekommen.

Eine kritische Zeitung hätte auch auf die Praxis des Racial Profiling im Allgemeinen eingehen können, auch und gerade im Zusammenhang mit der Erlaubnis anlass- und verdachtsloser Kontrollen an sogenannten “kriminalitätsbelasteten Orten” (kbOs). Diese führen zu vermehrtem Racial Profiling, das (nicht nur) nach dem Grundgesetz verboten ist. Unsere Vermutung, dass es sich hierbei um eine versteckte Migrationskontrolle handelt, wird in der Antwort auf unsere kleine Anfrage indirekt bestätigt: An dritter Stelle aller vom 1. Januar bis zum 30. November 2020 gestellten Strafanzeigen im kbO “Görlitzer Park” stehen Verstöße gegen aufenthalts- und asylrechtliche Bestimmungen. Diese “Delikte” werden wiederum herangezogen, um das Gebiet als “kriminalitätsbelastet” auszuweisen – ein rassistischer Zirkelschluss! Vor diesem Hintergrund unsere Beobachtung des Racial Profiling als „schwere Vorwürfe“ zu bezeichnen, wie in Ihrem Artikel formuliert, erscheint uns in Hinblick auf derzeitige Debatten und Vorkommnisse schon fast als weltfremd.

Die Menschen, die im Görlitzer Park und in unserem Kiez kontrolliert werden, haben vielfältige Hintergründe. Manche wohnen hier, andere sind auf dem Weg zur Arbeit oder zu Freunden, wieder andere verkaufen Drogen, häufig weil sie wegen ihrem Aufenthaltsstatus nicht arbeiten dürfen oder auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Ein ungesicherter Aufenthaltsstatus macht die versteckte Migrationskontrolle in Form von Racial Profiling für die betroffenen Menschen noch prekärer. Den Ruf nach mehr Polizei und mehr Sicherheit empfinden wir daher als zynisch und unsolidarisch: mehr Sicherheit für wen? “Sicher” nicht für Menschen, die von Abschiebung in Kriegsgebiete oder Armut bedroht sind!

Die Autorin hingegen macht unsere Initiative lächerlich, indem sie statt einer kritischen Analyse die Aussage, “[m]it den Rassismusvorwürfen werde vom eigentlichen Problem abgelenkt: dem Verhalten der Dealer”, unkommentiert wiedergibt – ebenso wie eine Polizeimeldung, mit der sie ihren Text beendet. Dies sehen wir als Verharmlosung von Rassismus an: Das Sicherheitsgefühl von Teilen der Anwohner*innen scheint wichtiger als die Sicherheit von Schwarzen Menschen und People of Color. Tatsächlich werden rassistische Praxen bei der Polizei auch dadurch ermöglicht, dass sie von Teilen der Bevölkerung als gerechtfertigt angesehen und toleriert werden. Racial Profiling darf aber nicht mit einem Bedürfnis nach mehr Sicherheitsgefühl durch die Hintertür gerechtfertigt und auch nicht in seiner Gewalt relativiert werden. Racial Profiling ist kein „Kollateralschaden“ von als notwendig angesehenen Polizeimaßnahmen!

Der Artikel reproduziert das gesamtgesellschaftliche Problem im Umgang mit Rassismus und verpasst die Chance, einen Beitrag zur Sichtbarmachung und Reflexion zu leisten. Die Gewalt, die wir tagtäglich von Seiten der Polizei erleben oder beobachten, wird unsichtbar gemacht. Ebenso wie der strukturelle Rassismus, der Gesetze, Alltagsrassismus und Medienbilder mit dem Agieren von Polizei und Justiz verbindet. Die Presse trägt hier eine Mitverantwortung für den Zusammenhalt der Gesellschaft und unserer Nachbarschaft!

Wir hoffen, dass die taz in Zukunft ihren Anspruch, ausgewogenen Journalismus zu betreiben, ernst nimmt und zu einer kritischen Auseinandersetzung beiträgt.

Solidarische Grüße

Wrangelkiez United!